Prospekthaftung des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters

BGH
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Der Gesellschaftsrechtssenat des BGH hat in seiner Hinweisbeschlussreihe vom 27. Juni 2023 (Aktenzeichen: II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21) im Einvernehmen mit dem Bankrechtssenat eine Neuausrichtung bei der sog. bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im weiteren Sinne vorgenommen. In diesem Beitrag soll die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung im weiteren Sinne zunächst allgemein in das Prospekthaftungsregime eingeordnet und sodann die Neuausrichtung der beiden Zivilsenate in dieser praktisch wichtigen Frage dargestellt werden.

1. Einordnung in das Prospekthaftungsregime

Im Kapitalmarktrecht gibt es zunächst die spezialgesetzliche Prospekthaftung nach WpPG, KAGB und VermAnlG. Darüber hinaus wird noch zwischen der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im engeren Sinne und im weiteren Sinne unterschieden.

a. Prospekthaftung im engeren Sinne

Neben der spezialgesetzlichen Prospekthaftung,

gab es – rechtshistorisch gesehen – vor Inkrafttreten des KAGB und des VermAnlG eine gesetzliche Regelungslücke, weil im damaligen unregulierten „grauen Kapitalmarkt“ weder eine spezialgesetzliche Prospektpflicht noch -haftung vorgesehen waren (vgl. nur Poelzig, Kapitalmarktrecht, 2. Auflage, München 2021, Rn. 330).

Die Rechtsprechung hatte zum Schutz der Kapitalanleger die sog. bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung im engeren Sinne entwickelt. Hierbei handelte es sich um eine Haftung gem. § 311 Abs. 2 BGB, § 280 Abs. 1 BGB, § 241 Abs. 2 BGB (sog. Haftung für typisiertes Vertrauen). Durch die Prospekthaftung im engeren Sinne wurde bei fehlerhaften Prospekten eine Schadensersatzhaftung der Herausgeber des Prospekts, Gründer, Hintermänner und der Garanten gegenüber dem geschädigten Anleger nach den §§ 249 ff. BGB begründet (vgl. Poelzig, a.a.O.).

Die Prospekthaftung im engeren Sinne war für die geschädigten Anleger gegenüber der heutigen spezialgesetzlichen Prospekthaftung vor allem aus zwei Gründen vorteilhafter:

  • Im Rahmen der Prospekthaftung im engeren Sinne hafteten die Verantwortlichen bereits für eine einfache fahrlässige Unkenntnis von der Fehlerhaftigkeit des Prospekts. Im Fall der heutigen spezialgesetzlichen Prospekthaftung haften die Verantwortlichen indes nur dann, wenn sie die Fehlerhaftigkeit des Prospekts gekannt oder grob fahrlässig nicht gekannt haben.
  • Der Anspruch des Anlegers im Rahmen der Prospekthaftung im engeren Sinne war auf Vertragsaufhebung bzw. Befreiung von der Verbindlichkeit oder Rückzahlung des Anlagebetrages nebst Agio, Kosten und entgangenen Gewinn Zug um Zug gegen Rückübertragung der erworbene Beteiligung gerichtet. Im Unterschied zur heutigen spezialgesetzlichen Prospekthaftung war die Haftung also nicht auf den ersten Erwerbspreis begrenzt und der geschädigte Anleger konnte zudem noch den entgangene Gewinn (§ 252 BGB) ersetzt verlangen.

Die Prospekthaftung im engeren Sinne hat allerdings nach der heute ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur keine praktische Bedeutung mehr (vgl. Poelzig, a.a.O., Rn. 344 m.w.N.). Dies hat vor allem zwei Gründe:

  • Im Anwendungsbereich der spezialgesetzlichen Prospekthaftung (nach WpPG, KAGB und VermAnlG) geht die spezialgesetzliche Prospekthaftung der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im engeren Sinne vor.
  • Soweit eine spezialgesetzliche Prospektpflicht durch eine ausdrückliche Ausnahmeregelung ausgeschlossen ist (d. h. also kein Prospekt zu erstellen ist), kommt die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung im engeren Sinne auch nicht zur Anwendung.

Im Ergebnis bedeutet dies, dass die praktische Bedeutung der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im engeren Sinne richtigerweise nunmehr „gegen Null“ tendiert (so ausdrücklich Poelzig, a.a.O., Rn. 344).

b. Prospekthaftung im weiteren Sinne

Neben der spezialgesetzlichen Prospekthaftung (nach WpPG, KAGB und VermAnlG) kommt in der Rechtspraxis noch die Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht in Betracht.

Die Schadensersatzhaftung wegen einer Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht knüpft nicht – wie die spezialgesetzliche Prospekthaftung und die (frühere) bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung im engeren Sinne – an die Erstellung eines fehlerhaften Prospekts an, sondern daran an, dass der Anlageinteressent durch die Verwendung eines unrichtigen und/oder unvollständigen Prospekts über die wesentlichen Risiken nicht richtig und/oder nicht vollständig über die Kapitalanlage aufgeklärt worden ist. Aufgrund dieser „Nähe“ dieser Schadensersatzhaftung zum Prospekt wird diese Schadensersatzhaftung – leider etwas verwirrend – auch als „Prospekthaftung im weiteren Sinne“ oder auch als „uneigentliche Prospekthaftung“ bezeichnet.

Ob die Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht allerdings neben der spezialgesetzlichen Prospekthaftung überhaupt zur Anwendung kommt, war – bis zu der hier dargestellten Neuausrichtung der BGH – zwischen dem für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenat und dem für das Bankrecht zuständigen XI. Zivilsenat umstritten.

Der Bankrechtssenat geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die spezialgesetzliche Prospekthaftung nach dem Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ nicht nur die Prospekthaftung im engeren Sinne, sondern auch auch die Prospekthaftung im weiteren Sinne – also die hier in Rede stehende Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht – ausschließt (vgl. nur BGH, Beschluss von 23. Oktober 2018 – XI ZB 3/16, Rn. 55 m.w.N. und BGH, Beschluss vom 14. Juni 2022 – XI ZR 395/21, Rn. 8 m.w.N.). Die Rechtsprechung des Bankrechtssenats bedeutet im Ergebnis also, dass die Gründungsgesellschafter einer Fondsgesellschaft nur unter den Voraussetzungen der spezialgesetzlichen Prospekthaftung haften.

Demgegenüber geht der Gesellschaftsrechtssenat in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die spezialgesetzliche Prospekthaftung die Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht nicht ausschließt (vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 – II ZR 22/22, Rn. 35 ff. m.w.N. ). Die vorvertragliche Aufklärungspflicht bei einer Kommanditgesellschaft trifft grundsätzlich gerade die zuvor schon beigetretenen – nicht rein kapitalistisch beteiligten – Gesellschafter, namentlich die Gründungs- bzw. Altgesellschafter. Diese Aufklärungspflicht besteht auch gegenüber einem über einen Treuhänder beitretenden Anleger, wenn der Treugeber nach dem Gesellschaftsvertrag wie ein unmittelbar beitretender Gesellschafter behandelt werden soll (vgl. nur BGH, Urteil vom 08. Januar 2019 – II ZR 139/17, Rn. 23 m.w.N. ).

Dieser Grundsatzstreit zwischen den beiden Zivilsenaten drohte zu eskalieren, weil beide Senate nicht den Großen Senat für Zivilsachen anriefen, der eigentlich dazu ist, solche Streitigkeiten beizulegen. Vor diesem Hintergrund ist die hier dargestellte Hinweisbeschlussreihe vom 27. Juni 2023 (Aktenzeichen: II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21) zu sehen.

2. Neuausrichtung des BGH zur Prospekthaftung des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters

Der der Beschlussreihe vom 27. Juni 2023 (Aktenzeichen: II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR/21) zugrunde liegende Sachverhalt findet sich in dem sehr lesenswerten Beitrag von Dr. Torsten Henning vom 29. August 2023 zu dieser Beschlussreihe. Die Anleger einer Publikumskommanditgesellschaft (Fonds), die Investments auf den amerikanischen Immobilienmarkt zum Gegenstand hatte, machten gegenüber den Gründungsgesellschaftern des Fonds – der geschäftsführenden Kommanditistin und der Komplementärin – Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB geltend. Das Landgericht Hamburg stellte in diesem Zusammenhang fest, dass der Verkaufsprospekt nicht hinreichend über die kapitalmäßige bzw. personelle Verflechtungen dieser Beteiligung aufgeklärt habe, weil die tatsächliche Beteiligungsstruktur des Fonds die prospektierte Aufsichts- und Kontrollfunktion beim Fonds – hier die Mittelverwendung – habe ausschalten können.

Während das unter dem Aktenzeichen II ZR 56/21 laufende Verfahren durch Rücknahme endete, ließ der II. Zivilsenat in den drei Parallelverfahren mit den Aktenzeichen II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21 die Revision erneut zu und erteilte mit den Beschlüssen vom 27. Juni 2023 entsprechende Hinweise an die Parteien. Der XI. Zivilsenat nahm in seinem NZB-Zurückweisungsbeschluss vom 11. Juli 2023 in dem Verfahren mit den Aktenzeichen XI ZR 60/22 hierauf Bezug.

a. Aufklärungspflicht über kapitalmäßige und personelle Verpflechtungen

Die drei Hinweisbeschlüsse des II. Zivilsenats knüpfen an die bisherige Rechtsprechung des Gesellschaftsrechts- und Bankrechtssenats zur Aufklärungspflicht bei kapitalmarktrechtlichen Beteiligungsangeboten an.

Danach sind in einem Verkaufsprospekt die wesentlichen kapitalmäßigen und personellen Verflechtungen zwischen der Fondsgesellschaft, ihren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern, und dem Unternehmen sowie deren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern, in deren Hand die Beteiligungsgesellschaft die vorzunehmenden Vorhaben ganz oder wesentlich gelegt hat, einschließlich der diesem Personenkreis gewährten Sonderzuwendungen oder Sondervorteile darzustellen. Der Anleger muss aufgrund dieser Prospektdarstellung selbst beurteilen können, ob die Gefahr einer Interessenkollision zu seinen Lasten bestehe (vgl. nur BGH, II ZR 264/18, Rn. 12 m.w.N. sowie BGH, XI ZB 18/17, Rn. 88 m.w.N..

b. Neuausrichtung des BGH: Haftung des vertriebsverantwortlichen Altgesellschafters

Während man also mit Blick auf die Aufklärungspflicht über kapitalmäßige und personelle Verpflechtungen nicht von einer „Neuausrichtung“ der Rechtsprechung des BGH sprechen kann, ist dies aber mit Blick auf den Vorrang der spezialgesetzlichen Prospekthaftung vor der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im weiteren Sinne durchaus der Fall.

Als einen Kompromiss zwischen den beiden Senaten kann die Neuausrichtung insoweit verstanden werden, als dass eine vorvertragliche Aufklärungspflicht nur noch solche Altgesellschafter trifft,

„die entweder selbst den Vertrieb der Beteiligungen an Anleger übernehmen oder in sonstiger Weise für den von einem anderen übernommenen Vertrieb Verantwortung tragen.

Vertriebsverantwortung tragen danach, soweit der Vertriebsauftrag von der Fondsgesellschaft erteilt wurde, die geschäftsführungsbefugten Altgesellschafter. Altgesellschafter tragen die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Aufklärung der Beteiligungsinteressenten aber nicht allein deswegen, weil ihr Alleingesellschafter aufgrund eines von der Fondsgesellschaft erteilten Auftrags den Vertrieb der Beteiligungen übernommen hat. Eine personelle Verflechtung eines Altgesellschafters mit der Vertriebsgesellschaft begründet ebenfalls keine Verantwortung für den Vertrieb.“

BGH, Beschluss vom 27. Juni 2023, Aktenzeichen: II ZR 57/21

Diese Rechtsprechung bedeutet im Ergebnis: Ein geschäftsführungsbefugter Alt- bzw. Gründungsgesellschafter, der durch den eigenen Vertrieb der Fondsanteile oder die Beauftragung des Vertriebs für den Fonds einen zusätzlichen Vertrauenstatbestand setzt, haftet als sog. vertriebsverantwortlicher Altgesellschafter aus dem Gesichtspunkt der Schadensersatzhaftung wegen Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht. Im Übrigen bleibt es beim Vorrang der spezialgesetzlichen Prospekthaftung mit der Folge, dass alle übrigen – nicht vertriebsverantwortlichen – Alt- bzw. Gründungsgesellschafter nicht haften (wie hier auch Henning, jurisPR-BKR 8/2003, Ziffer C. II. 2.).

Umgekehrt heißt das aber auch, dass alle Personen, die nicht spezialgesetzlich – d.h. als Prospektverantwortliche und Prospektveranlasser – haften und daher nicht in den Anwendungsbereich der spezialgesetzlichen Prospekthaftung fallen, weiterhin aus dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflichtverletzung in Anspruch genommen werden können und zwar unabhängig davon, ob sie Vertriebsverantwortung tragen oder nicht.

c. Voraussetzungen der Schadensersatzhaftung für die Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht

Unter der Zugrundelegung der Neuausrichtung des BGH kann ein Alt- bzw. Gründungsgesellschafter im Fall eines fehlerhaften Prospekts aus dem Gesichtspunkt einer vorvertraglichen Aufklärung gem. § 280 Abs. 1 und 3 BGB, § 282 BGB, § 311 Abs. 2 und 3 BGB, § 241 Abs. 2 BGB zusammenfassend unter den nachfolgenden Voraussetzungen in Anspruch genommen werden:

  • Vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen Anleger und Altgesellschafter: der nach dem WpPG, KAGB oder VermAnlG prospektverantwortliche Altgesellschafter trägt die Vertriebsverantwortung bzw. haftet auch ohne Vertriebsverantwortung, wenn der Anwendungsbereich der spezialgesetzlichen Prospekthaftung nicht eröffnet ist,
  • Aufklärungspflichtverletzung durch die Verwendung eines unrichtigen und/oder unvollständigen Prospekts,
  • Kausalität zwischen der Aufklärungspflichtverletzung und dem Schaden, wobei nach der sog. Vermutung des aufklärungspflichtigen Verhaltens davon auszugehen ist, dass der Anleger bei pflichtgemäßer Aufklärung durch einen zutreffenden Prospekt die Kapitalanlage nicht erworben hätte,
  • Verschulden des Aufklärungspflichtigen nach allgemeinen Bestimmungen (§§ 276, 278 BGB).

Im Rahmen der Schadensersatzhaftung für die Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht kann der Anleger entweder den großen Schadensersatz (d. h. Rückabwicklung der Kapitalanlage) oder den kleinen Schadensersatz (d. h. Behalten der Kapitalanlage und Erstattung des Minderwerts der Kapitalanlage durch Herabsetzung des überhöhten Anlagebetrages) verlangen.

3. Fazit

Die Neuausrichtung der BGH zur Frage, ob und ggf. in welchem Umfang die Prospekthaftung im weiteren Sinne – d.h. die Haftung für eine vorvertragliche Aufklärungspflichtverletzung – neben der spezialgesetzlichen Prospekthaftung zur Anwendung gelangt, ist eine zentrale Frage in vielen Prospekthaftungsfällen. Die Ausrichtung des Gesellschaftsrechts- und des Bankrechtssenats auf eine gemeinsame Linie ist sehr zu begrüßen, weil sie in einer praktisch wichtigen Rechtsfrage nunmehr Rechtssicherheit schafft.

Dr. Ingo Janert (Stand: 9. November 2023, Bild fotografiert für Staatliches Hochbaumamt Karlsruhe, Architektur: harter & kanzler Freie Architekten BDA)