Product Governance – kompakt erklärt

Product Governance

In diesem Beitrag soll die sog. Product Governance erläutert werden. Vereinfacht kann man sagen, dass durch die Product Governance sichergestellt werden soll, dass ein neu konzipiertes Finanzinstrument (z.B. eine Fondsbeteiligung oder Anleihe) seinen Weg zum passenden Kunden findet.

1. Begriff der Product Governance

Unter dem Begriff der Product Governance werden die organisatorischen Pflichten von Wertpapierdienstungsunternehmen zur Produktentwicklung, Zielmarktbestimmung, Produktfreigabe und ‐überwachung verstanden (ähnlich: Poelzig, Kapitalmarktrecht, 2. Aufl., München 2021, Rn. 350).

Die BaFin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Begriff Product Governance – in Anlehnung an den Begriff der Corporate Governance – für einen

„verantwortungsvollen und nachhaltigen Herstellungs- und Vertriebsprozess für Finanzprodukte steht, der sich nicht (nur) am Ziel der Gewinnmaximierung des Unternehmens orientiert, sondern vor allem am Kundeninteresse (…)“.

BaFin, Fachartikel zur Product Governance vom 16. Oktober 2018

Die auf die novellierten europäischen Finanzmarktrichtlinie (MiFID II) beruhenden und am 3. Januar 2018 in Kraft getretenen Vorschriften bilden dabei den gesamten Lebenszyklus eines Finanzinstruments ab – beginnend von der Herstellung über den Vertrieb bis zum Produktende.

Diese organisatorischen Regelungen finden sich vor allem in § 80 Abs. 9 bis 13 WpHG. Sie werden durch § 11 WpDVerOV und die Leitlinien der ESMA ergänzt.

2. Anlass für die Schaffung der Product Governance

Die Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 hatte ihre wesentliche Ursache darin, dass viele Marktteilnehmer komplexe Finanzinstrumente – wie z.B. Verbriefungen und Hebelprodukte – nicht verstanden. Solche Finanzinstrumente wurden verpackt in weiteren strukturierten Finanzinstrumenten auch an Privatanleger vertrieben, die hierdurch erhebliche Verluste erlitten.

Als eine Konsequenz aus dieser Finanzkrise schuf der europäische Gesetzgeber in den nachfolgenden Jahren die heutigen Regelungen der Product Governance. Jedes Wertpapierdienstleistungsunternehmen soll danach bereits im Vorfeld des Vertriebs eines Finanzinstruments dafür Sorge tragen, dass das Finanzinstrument nur solchen Kunden angeboten wird, zu deren Bedürfnissen es passt.

3. Ziel der Product Governance

Die organisatorischen Pflichten der Product Governance wollen sicherstellen, dass der Kunden nur das Finanzinstrument erhält, das auch seinen Bedürfnissen entspricht. Hierdurch wird der Anleger schon frühzeitig geschützt, so dass die Product Governance dem Anlegerschutz dient.

4. Verpflichtete der Product Governance

Die Regelungen zur Produktfreigabe – d.h. die Konzeption eines Finanzinstruments – richten sich an den Produkthersteller eines Finanzinstruments. Hierbei handelt es um Wertpapierdienstleistungsunternehmen i.S.v. § 2 Abs. 10 WpHG, die neue Finanzinstrumente für Kunden konzipieren, begeben oder gestalten. Das Gesetz nennt den Produkthersteller auch „Konzepteur“ (vgl. § 11 Abs. 1 WpDVerOV).

Demgegenüber richten sich die Regelungen zur Produktüberwachung – d.h. die Vermarktung und den Vertrieb eines Finanzinstruments – sowohl an den Produkthersteller als auch an die Vertriebsunternehmen, die das betreffende Finanzinstrument vertreiben. Bei den Vertriebsunternehmen muss es sich insoweit wiederum auch um ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen i.S.v. § 2 Abs. 10 WpHG handeln, das das betefffende Finanzinstrument vertreibt.

5. Wesentliche Pflichten bei der Konzeption des Finanzinstruments

Den Produkthersteller treffen bei der Konzeption eines neuen Finanzinstruments die nachfolgenden Pflichten:

a. Prüfung der Gefährdung der Finanzmarktstabilität

Vor der Entscheidung, ob ein bestimmtes Finanzinstrument als Produkt konzipiert werden soll, hat der Produkthersteller zu prüfen, ob das zu konzipierende Finanzinstrument eine Gefahr für das geordnete Funktionieren oder die Stabilität der Finanzmärkte darstellen kann (§ 11 Abs. 4 WpDVerOV).

b. Einrichtung und Unterhalten eines Produktfreigabeverfahrens

Der Produkthersteller muss weiter ein Verfahren der Freigabe für jedes einzelne Finanzinstrument und für jede wesentliche Anpassung eines bestehenden Finanzinstruments einrichten und unterhalten (§ 80 Abs. 9 S. 1 WpHG).

Die BaFin umschreibt den Prozess des Produktfreigabeverfahrens wie folgt:

In der Praxis sehen Konzepteure oft ein zweistufiges Produktfreigabeverfahren vor: Zunächst durchlaufen die Produkte einer bestimmten Produktgattung – etwa geschlossene alternative Investmentfonds (AIF) und Plain-Vanilla-Anleihen – einige der vorgenannten Prozessschritte. In einem zweiten Schritt werden die Parameter definiert, die für das einzelne Instrument spezifisch sind. Zum Beispiel bestimmt der Konzepteur die Risikoklasse des Instruments im Einklang mit dem festgelegten Zielmarkt. Ein solches zweistufiges Vorgehen bei der Produktfreigabe ist nach Ansicht der BaFin gemäß dem Proportionalitätsprinzip grundsätzlich zulässig.“

BaFin, Fachartikel zur Product Governance vom 16. Oktober 2018

c. Vermeidung von Interessenkonflikten

Bei der Konzeption eines Finanzinstruments hat der Produkthersteller mögliche Interessenkonflikte zu analysieren und sicherzustellen, dass mit Interessenkonflikten, insbesondere unter dem Aspekt der Vergütungsstruktur, ordnungsgemäß umgegangen wird (§ 11 Abs. 2, 3 WpDVerOV). Das Produktfreigabeverfahren ist damit Teil des Interessenkonfliktmanagements (vgl. nur EBJS/Poelzig, 4. Aufl. 2020, WpHG, § 80, Rn. 17).

d. Bestimmung des Zielmarkts

Der Produkthersteller muss im Rahmen des Produktfreigabeverfahrens einen Zielmarkt für das betreffende Finanzinstrument bestimmen (§ 80 Abs. 9 S. 2 WpHG). Durch die Zielmarktbestimmung soll sichergestellt werden, dass die Finanzinstrumente den Bedürfnissen der Endkunden im festgelegten Zielmarkt entsprechen (vgl. nur EBJS/Poelzig, a.a.O., Rn. 18).

Die Vertriebsstrategie des Produktherstellers muss dabei dem von ihm bestimmten Zielmarkt entsprechen (§ 80 Abs. 9 S. 4 WpHG).

e. Durchführung einer Szenarioanalyse

Der Produkthersteller hat im Hinblick auf jedes von ihm konzipierte Finanzinstrument eine sog. Szenarioanalyse durchzuführen (§ 11 Abs. 9 S. 1 WpDVerOV). Hierdurch soll beurteilt werden, welche Risiken des Finanzinstruments im Hinblick auf ein schlechtes Ergebnis bestehen und unter welchen Umständen dieses Ergebnis eintreten kann.

So muss etwa analysiert werden, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen eine Verschlechterung des Marktumfeldes oder finanzielle Schwierigkeiten eines Vertragspartners auf das konzipierte Finanzinstrument hat (§ 11 Abs. 9 S. 2 WpDVerOV).

6. Wesentliche Pflichten beim Vertrieb des Finanzinstruments

Beim Vertrieb des Finanzinstruments treffen den Produkthersteller und das Vertriebsunternehmen nachfolgende wesentliche Pflichten:

a. Zurverfügungstellung von Informationen durch den Produkthersteller

Bedient sich der Produkthersteller einen Vertrieb für das Finanzinstrument, so hat der Produkthersteller dem Vertriebsunternehmen alle erforderlichen Informationen zum Finanzinstrument sowie zum Produktfreigabeverfahren (einschließlich der Zielmarktbestimmung) zur Verfügung zu stellen (§ 80 Abs. 11 WpHG). Hierdurch soll sichergestellt werden, dass das Vertriebsunternehmen in der Lage ist, das Finanzinstrument richtig zu verstehen, zu empfehlen und zu verkaufen (§ 11 Abs. 12 WpDVerOV).

b. Einrichtung und Unterhalten eines Produktfreigabeverfahrens durch das Vertriebsunternehmen

Vergleichbar mit dem Produkthersteller ist auch das Vertriebsunternehmen verpflichtet, ein Produktfreigabeverfahren ein- und durchzuführen (vgl. § 80 Abs. 12 WpHG und § 12 WpDVerOV).

Da die Vertriebsunternehmen aber keine Finanzinstrumente konzipieren, kommt dem Verfahren insoweit eine andere Rolle zu: Das Vertriebsunternehmen soll anhand einzelner Prozessschritte entscheiden, ob es ein Finanzinstrument in sein Sortiment aufnimmt und dies vertreibt.

c. Laufende Produktüberwachungspflicht des Produktherstellers

Der Produkthersteller trifft eine Produktüberwachungspflicht, wonach das von ihm konzipierte Finanzinstrument regelmäßig, d.h. in zeitlich wiederkehrenden Abständen, auf seine Funktionalität zu überprüfen ist (§ 80 Abs. 10 WpHG i.V.m. § 11 Abs. 13, 14 WpDVerOV).

d. Weitere Pflichten des Vertriebsunternehmens

Die Vertriebsunternehmen sind gemäß § 64 Abs. 5 WpHG verpflichtet, die von ihnen angebotenen oder vermarkteten Finanzinstrumente zu verstehen und den vom Produkthersteller festgelegten Zielmarkt bei der Erbringung ihrer Vertriebstätigkeiten zu berücksichtigen. Außerdem müssen sie ihre Vertriebsstrategie auf den Zielmarkt abstimmen (§ 12 Abs. 4 WpDVerOV).

Der Vertrieb eines Finanzinstruments an Endkunden außerhalb des definierten Zielmarkts ist zwar nicht verboten, doch das Vertriebsunternehmen hat in diesem Fall den Produkthersteller über die Verkäufe außerhalb des Zielmarkts zu informieren (§ 12 Abs. 9 WpDVerOV).

7. Zusammenfassung

Durch die organisatorischen Pflichten der Product Governance will das Aufsichtsrecht sicherstellen, dass ein neu konzipiertes Finanzinstrument seinen Weg zum passenden Kunden findet. Die Pflichten treffen die betreffenden Wertpapierdienstleistungsunternehmen während der gesamten „Lebensphase“ eines Finanzinstruments: von der erstmaligen Konzeption über den Vertrieb bis zum Produktende des Finanzinstruments. Aus diesen Gründen dient die Product Governance dem Schutz der Anleger.

Dr. Ingo Janert (Stand: 16. Dezember 2023, Bild von onehundredseventyfive auf Pixabay)