Mit Beschluss vom 30. April 2019 (Aktenzeichen: XI ZB 13/18) konkretisierte der BGH die Rechtsprechung zum Anwendungsbereich des KapMuG (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes).
1. Sachverhalt der Entscheidung
Die Klägerin nahm die Beklagte wegen fehlerhafter Anlageberatung auf Schadensersatz in Anspruch.
Laut der Klägerin sei diese, nach einer Beratung durch die Beklagte, im Jahr 2007 als Kapitalanlegerin einem Immobilienfonds beigetreten. Bei der Beratung habe sie sich durch ihren Vater vertreten lassen, welcher einen Kundenberater der Beklagten, den G., auf einer von der Beklagten organisierten Reise, kennenlernte. G. soll ihm von einer Fondsbeteiligung, welche über die Beklagte erfolge, berichtet haben, woraufhin die Klägerin den angeblich von der Beklagten übersandten Zeichnungsschein unterschrieb.
Die Klägerin gab an, nicht richtig beraten und über die Höhe der von der Beklagten vereinnahmten Rückvergütung getäuscht geworden zu sein. Außerdem soll es Fehler im zugehörigen Prospekt der Fondsbeteiligung gegeben haben, auf welche die Beklagte nicht hinwies.
Die Beklagte stritt eine Beratung ab, da der Vater den G. auf der Reise nicht kennengelernt habe, da dieser an der Reise nicht teilnahm. Außerdem sei auf dem Zeichnungsschein als Vermittler ein Stempel der Firma „W. GmbH“ zu erkennen.
Das Landgericht hat den Rechtsstreit gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt. Dabei hat es ungeklärt gelassen, ob zwischen den Parteien ein Anlagebratungsvertrag zustande gekommen ist. Das Beschwerdegericht hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Der Beschluss des BGH führt zur Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegericht sowie zur Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts und zur Anordnung der Fortsetzung des Verfahrens.
2. Entscheidung des BGH
Der 11. Senat des BGH hielt die Aussetzungsentscheidung für unzulässig. Das Landgericht hätte nicht offenlassen dürfen, ob zwischen den Parteien ein Anlageberatungsvertrag zustande gekommen ist.
a. Prospektanwendung
Im Dezember 2012 wurde der Anwendungsbereich des KapMuG durch § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG auf Schadensersatzansprüche wegen Verwendung eines fehlerhaften oder irreführenden Prospekts erweitert, wonach der mittelbare Bezug auf eine öffentlich existierende Kapitalmarktinformation ausreichen soll. Allerdings sollen weiterhin Aufklärungsfehler, die kein Bezug zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation haben, nicht Gegenstand eines Musterverfahrens werden können.
Nach Ansicht de BGH ist der Anwendungsbereich des KapMuG eröffnet, wenn die öffentliche Kapitalmarktinformation Mittel der schriftlichen Aufklärung und nicht der Inhalt eines mündlich geführten Beratungsgesprächs geworden ist. Ansonsten wäre nur die individuelle Beratung maßgeblich, welche allerdings nicht im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz überprüft werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass der Kapitalanleger den Prospekt so rechtzeitig vor dem Vertragsschluss erhielt, dass er den Inhalt noch rechtzeitig zur Kenntnis nehmen konnte.
Im vorliegenden Fall begründete die Klägerin den Vorwurf der fehlerhaften Anlageberatung unter anderem mit Prospektfehlern, welche Gegenstand des Musterverfahrens sind. Auch habe sie diesen Prospekt unstreitig rechtzeitig erhalten, womit der Anwendungsbereich eröffnet sei.
Dahingehend könne die geltend gemachten Beratungspflichtverletzung durch unzutreffende Angaben über die Höhe der von der Beklagten vereinnahmten Rückvergütung, welche keinen Bezug zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation haben, nicht Gegenstand des Musterverfahren sein.
b. Aussetzungsvoraussetzungen
Des Weiteren nimmt der BGH in seinem Beschluss zu den Aussetzungsvoraussetzungen Stellung.
Dabei könne das Verfahren gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nur ausgesetzt werden, wenn das Prozessgericht bereits der Überzeugung ist, dass es für den Ausgang des Rechtsstreits auf die statthaft geltend gemachten Feststellungsziele konkret ankommen wird. Vor einer Aussetzungsentscheidung müssen jedoch die im Musterverfahren statthaften Feststellungsziele, Tatsachen oder Rechtsfragen, welche nur auf diese bezogen, geprüft werden können, offenbleiben. Es sei dem Prozessgericht nach Ansicht des BGH nicht erlaubt, hypothetische Erwägungen aufzustellen. Aus diesem Grund müsse es zunächst offenbleiben, ob ein fehlerhafter Prospekt vorliegt, ob der Fehler für die Anlageentscheidung kausal geworden ist und ob die Beklagte diesen zu verschulden habe. Dies lasse sich erst konkret prüfen, wenn ein bestimmter Prospektfehler feststünde.
Weitere praktisch wichtige Entscheidungen zum Kapitalmarktrecht finden Sie bitte hier.
Dr. Ingo Janert (01. Dezember 2019, Bild: Bibliothek des BGH, Fotograf: Stephan Baumann)