VW-Abgasskandal: BGH zu konkurrierenden Musterverfahren

Luftaufnahme vom BGH

Der BGH hat im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal in seiner Entscheidung vom 16. Juni 2020 (Aktenzeichen: II ZB 10/19) sich mit der Frage beschäftigt, wie mit Blick auf die Sperrwirkung des § 7 Satz 1 KapMuG zwei sich inhaltlich konkurrierenden Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig und dem OLG Stuttgart zu behandeln sind.

1. Sachverhalt der Entscheidung

a. Bei dem Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig (Aktenzeichen: 3 Kap 1/16) ging es um den nachfolgenden Sachverhalt:

Die Porsche Automobil Holding SE (nachfolgend auch nur „Porsche SE“ genannt) hält als Holdinggesellschaft etwa 52 % der Stimmrechte an der Volkswagen AG. Im Jahr 2007 stellte die Volkswagen AG eine neue Baureihe von Dieselmotoren unter der Bezeichnung EA 189 vor, die sie ab dem Jahr 2008 baute und auch in den USA vermarktete.

Am 22. September 2015 veröffentlichte die börsennotierte Volkswagen AG eine Ad-hoc-Mitteilung. In dieser Ad-hoc-Mitteilung teilte die Volkswagen AG mit, dass nach internen Prüfungen weltweit rund 11 Mio. Fahrzeuge mit Dieselmotoren des Typs EA 189 Auffälligkeiten bezüglich ihres Stickoxidausstoßes aufwiesen und die Gesellschaft deshalb beabsichtige, im dritten Quartal 2015 eine ergebniswirksame Rückstellung in Höhe von ca. Euro 6,5 Mrd. zu bilden.

Am gleichen Tage veröffentlichte auch die Mehrheitsgesellschafterin der Volkswagen AG – die gleichfalls börsennotierte Porsche SE – eine Ad-hoc-Mitteilung. In der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 teilte diese Gesellschaft mit, dass aufgrund ihrer Kapitalbeteiligung an der Volkswagen AG ein entsprechender ergebnisbelastender Effekt zu erwarten sei.

Im September 2015 brachen im Zuge des VW-Abgasskandals die Aktienkurse beider Gesellschaften ein.

In dem vor dem OLG Braunschweig laufenden Kapitalanleger-Musterverfahren geht es um die Frage, ob die Volkswagen AG im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal ihre kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten verletzt hat.

b. Zeitlich später ging es im Süden Deutschlands um die Aufarbeitung, ob auch die börsennotierte Porsche SE im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal ihre kapitalmarktrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß nachgekommen ist.

Das LG Stuttgart (Aktenzeichen: 22 AR 1/17 Kap) legte zu diesem Zweck dem OLG Stuttgart zur Herbeiführung eines Musterentscheids Feststellungsziele vor, mit denen die unmittelbare Betroffenheit der Porsche SE von Vorgängen aus dem Bereich der Volkswagen AG, hieraus folgende Ad-hoc-Mitteilungspflichten, und Fragen der Wissenszurechnung geklärt werden sollen.

Das OLG Stuttgart hielt mit Blick auf die Sperrwirkung des § 7 Satz 1 KapMuG („Mit Erlass des Vorlagebeschlusses ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 8 Absatz 1 auszusetzenden Verfahren unzulässig.“) das zeitlich spätere Musterverfahren für unzulässig, da vor dem OLG Braunschweig bereits ein Musterverfahren anhängig sei und beide Verfahren mit den kapitalmarktrechtlichen Vorgängen bei der Volkswagen AG denselben Lebenssachverhalt beträfen. Gegen diese Entscheidung haben sich Kapitalanleger mit ihren vom OLG Stuttgart zugelassenen Rechtsbeschwerden gewandt.

2. Entscheidung des BGH

Der BGH hob die Entscheidung des OLG Stuttgart auf und wies die Sache zur Entscheidung über die Bestimmung eines Musterklägers an das OLG Stuttgart zurück. Der BGH verneinte eine Sperrwirkung des § 7 Satz 1 KapMuG mit der vom OLG Stuttgart gegebenen Begründung.

Für die Frage, wie bei zwei konkurrierenden Musterverfahren im Hinblick auf die Sperrwirkung des § 7 Satz 1 KapMuG umzugehen ist, kann nach Auffassung des BGH bei Schadensersatzansprüchen, die auf das Unterlassen einer öffentlichen Kapitalmarktinformation gestützt werden, eine Entscheidung der Feststellungziele eines bereits eingeleiteten Musterverfahrens nur dann bindende Wirkung haben, wenn diese Feststellungsziele dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation betreffen (vgl. Rz. 20).

Eine Sperrwirkung nach § 7 Satz 1 KapMuG liegt danach im Hinblick auf das Musterverfahren des OLG Braunschweig nach Meinung des BGH nicht vor. Die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig betreffen ausschließlich Schadensersatzansprüche in Bezug auf öffentliche Kapitalmarktinformationen der Volkswagen AG (hier die Ad-hoc-Mitteilung der Volkswagen AG vom 22. September 2015). Gegenstand der Feststellungsziele des Musterverfahrens vor dem OLG Stuttgart sind hingegen ausschließlich Schadensersatzansprüche wegen öffentlicher Kapitalmarktinformationen der Porsche SE (hier die Ad-hoc-Mitteilung der Porsche SE vom 22. September 2015), so dass die Feststellungen des OLG Braunschweig in seinem Musterverfahren keine Bindungswirkung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG („Der Musterentscheid bindet die Prozessgerichte in allen nach § 8 Absatz 1 ausgesetzten Verfahren.“) für die Schadensersatzansprüche nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG haben können, auf die sich die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Stuttgart beziehen (vgl. Rz. 30).

Dass in diesem Zusammenhang bereits Verfahren gegen die beiden börsennotierten Gesellschaften ausgesetzt waren, ändere an dieser Beurteilung nichts. Für das Vorliegen der Sperrwirkung des § 7 Satz 1 KapMuG komme es auf die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG indes nicht ein, sodass ein zu Unrecht ausgesetztes Verfahren insoweit keine Rechtswirkung entfaltet (vgl. Rz. 31).

Gleiches gilt im Hinblick auf einen Beitritt der Volkswagen AG als Nebenintervenientin in den (allein) gegen die Porsche SE gerichteten Ausgangsverfahren. Die Wirkung der Nebenintervention ist nach Auffassung des BGH nach § 68 ZPO von vornherein auf das Verhältnis zur Hauptpartei und die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen begrenzt, auf denen das Urteil im Vorprozess beruht. Das Musterverfahren vor dem OLG Stuttgart kann entsprechend nur bindende Wirkung in Bezug auf etwaige Schadensersatzansprüche wegen unterlassener Kapitalmarktinformationen der Porsche SE entfalten (vgl. Rz 32).

Dr. Ingo Janert (Stand: 20. Juli 2020, Luftbildaufnahme vom BGH)

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