Der BGH hat in seiner Easy-Software-Entscheidung vom 18. September 2018 (Aktenzeichen: II ZR 152/17) verschiedene praxisrelevante Rechtsfragen zur Aufsichtsratshaftung wegen des Verstoßes gegen die ARAG/Garmenbeck-Pflichten konkretisiert. Die ARAG/Garmenbeck-Grundsätze betreffen die Pflicht des Aufsichtsrats, Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft im Fall von Pflichtverletzungen durch den Vorstand gegenüber den betreffenden Vorstandsmitgliedern geltend zu machen.
1. Sachverhalt der Easy-Software-Entscheidung
Die börsennotierte Easy Software AG machte gegen ihren vormaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung der sog. ARAG/Garmenbeck-Pflichten geltend.
Der beklagte Aufsichtsratsvorsitzende amtierte in der Zeit von Oktober 2002 bis August 2013. Im September 2002 hatte der Aufsichtsratsvorsitzende 27,4 % der damals bereits insolvenzreifen Aktiengesellschaft erworben und in den Folgejahren bis einschließlich 2011 über die Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung verfügt. Der damalige Vorstand der Easy Software AG wies verschiedene aktienrechtswidrige Zahlungen seitens der Gesellschaft zugunsten des beklagten Aufsichtsratsvorsitzenden an, wie etwa die Rückzahlung eines einer Tochtergesellschaft gewährten Darlehens an den Aufsichtsratsvorsitzenden im März 2003.
Der frühere Vorstand der Easy Software AG forderte allerdings diese aktienrechtswidrigen Zahlungen an den beklagten Aufsichtsratsvorsitzenden in den Folgejahren nicht zurück. Der Aufsichtsratsvorsitzende machte seinerseits auch keine Schadensersatzansprüche gegen den vormaligen Vorstand wegen dessen Untätigkeit in dieser Angelegenheit geltend und ließ vielmehr die Schadensersatzansprüche der Easy Software AG gegen den früheren Vorstand wegen dessen Untätigkeit verjähren.
In den gerichtlichen Verfahren – LG Duisburg als erste Instanz und OLG Düsseldorf als zweite Instanz – wurde die Frage, ob der Aufsichtsratsvorsitzende sich selbst gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig gemacht habe, weil er als Aufsichtsrat die ihm obliegende Rechtsverfolgungspflicht gegenüber dem früheren Vorstand nach den ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen verletzt habe, unterschiedlich beantwortet. Das LG Duisburg nahm einen noch nicht verjährten Schadensersatzanspruch der Easy Software AG gegenüber ihren früheren Aufsichtsratsvorsitzenden an, weil die Verjährungsfrist für den Schadensersatzanspruch gegen den Aufsichtsrat erst zu laufen angefangen habe, nachdem der Schadensersatzanspruch gegen den früheren Vorstand bereits verjährt war.
Das OLG Düsseldorf wies die Schadensersatzklage hingegen vollständig zurück, weil der Schadensersatzanspruch gegen den Vorstand aufgrund der besonderen Personenidentität zwischen Aktionär und Aufsichtsrat bereits zuvor verjährt war. Der BGH hob die Entscheidung des OLG Düsseldorf auf und nahm in seiner Entscheidung vom 18. September 2018 zu verschiedenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit den ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen Stellung.
2. Rechtsprechungsgrundsätze des BGH aus der Easy-Software-Entscheidung
Nachfolgend sollen nur die praktisch wichtigsten Grundsätze der Easy-Software-Entscheidung des BGH dargestellt werden. Diese Darstellung stellt insoweit keine umfassende Aufarbeitung der vorgenannten Entscheidung dar.
a. Haftung des Aufsichtsrats nach den ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen
Der 2. Zivilsenat des BGH betont zunächst, dass der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 1 AktG die Geschäftsführung zu überwachen und als Vertreter der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern nach § 112 AktG gegebenenfalls auch Schadensersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder zu verfolgen haben.
Auf der ersten Stufe habe der Aufsichtsrat zu prüfen, ob der Schadensersatzanspruch der Aktiengesellschaft in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besteht und wie das Prozessrisiko und die Durchsetzbarkeit der Forderung zu bewerten sei (sog. Prozessrisikoanalyse). Die Easy-Software-Entscheidung ist u.E. dahingehend zu verstehen, dass die vom BGH betonte Regelverfolgungspflicht sich auf diese erste Prüfungsstufe bezieht.
Auf der zweiten Stufe hat der Aufsichtsrat sodann zu prüfen, ob wegen gewichtiger Interessen und Belange der Gesellschaft bzw. aus anderen Gründen ausnahmsweise von der Verfolgung abgesehen werden könne (sog. Abwägungsentscheidung). In diesem Zusammenhang weist der BGH darauf hin, dass andere Gesichtspunkte, wie etwa die Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds, auf der zweiten Prüfungsstufe nicht dazu führen könne, dass die Gesellschaft einen Schadensersatzanspruch gegen den Vorstand nicht geltend macht. Bereits in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung hatte der BGH in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass dem Aufsichtsrat auf der Ebene der zweiten Prüfungsstufe in engen Grenzen ein Entscheidungsermessen zuzubilligen sei, so dass u.E. auch insoweit keine Verschärfung der Aufsichtsratshaftung durch die Easy-Software-Entscheidung vom 18. September 2018 verbunden ist.
Kommt der Aufsichtsrat dieser zweistufigen Prüfungspflicht nicht oder nicht ordnungsgemäß nach, kann er sich nach den ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen selbst nach § 116 AktG i.V.m. § 93 Abs. 2 AktG schadensersatzpflichtig machen.
b. Verjährungsbeginn der Aufsichtsratshaftung
Der Schwerpunkt der Easy-Software-Entscheidung betrifft die Frage der Verjährung der Organhaftungsansprüche. Bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften beträgt die Verjährungsfrist fünf und bei börsennotierten Aktiengesellschaften beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre (§ 93 Abs. 6 AktG). Die Verjährungsfrist beginnt abweichend von der bürgerlich-rechtlichen Regelverjährung schon mit der Entstehung des Anspruchs, d.h. ab dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch erstmals im Wege der Feststellungsklage geltend gemacht werden kann. Der BGH betont, dass der Schaden dabei noch nicht bezifferbar bzw. in seiner Entwicklung abgeschlossen sein muss. Vielmehr genügt jede Verschlechterung der Vermögenslage der Gesellschaft, wobei eine bloße Vermögensgefährdung hierfür noch nicht ausreiche.
Im Easy-Software-Fall bestand die Besonderheit mit Blick auf den Verjährungsbeginn darin, dass die haftungsbegründende Pflichtverletzung des beklagten Aufsichtsratsvorsitzenden nicht in einem positiven Tun oder einem einmaligen, punktuellen, sondern in einem fortdauernden Unterlassen – nämlich das Unterlassen der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs gegen den früheren Vorstand – bestand. Die Frage, wann bei einem schädigendem Dauerverhalten eines Gesellschaftsorgans die Verjährung beginnt, war in der Rechtsprechung und in der Literatur lange Zeit umstritten. Der BGH hat diese Frage nunmehr für die Praxis verbindlich dahingehend entschieden: Bei einer einheitlichen Dauerhandlung könne die Verjährung nicht beginnen, solange der Eingriff noch andauere. Bei mehreren sich wiederholenden einzelnen Unterlassungen beginne hingegen die Verjährung für jeden infolge der Unterlassung eintretenden Schaden gesondert.
Im vorliegenden Fall kam es auf diese Differenzierung indes nicht an. Bei Annahme einer Dauerhandlung (hier: Unterlassen der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs gegen den früheren Vorstand) wäre die Dauerhandlung erst mit dem Eintritt der Verjährung der Ansprüche gegen den Vorstand beendet gewesen, so dass der Schadensersatzanspruch gegen den Aufsichtsrat erst in diesem Zeitpunkt beginnen konnte. Bei Annahme wiederholender Unterlassungen gelangt man zu demselben Ergebnis, weil der Schaden der Gesellschaft mit dem Verstreichenlassen der letzten Möglichkeit zur verjährungshemmenden Geltendmachung entstanden ist.
In der praktischen Konsequenz bedeutet dies, dass ein Schadensersatzanspruch gegen ein Aufsichtsratsmitglied wegen Nichtgeltendmachung von Organhaftungsansprüche gegen ein Vorstandmitglied in langen Fristen vom – vermutlich dann neuen – Vorstand geltend gemacht werden kann bzw. – richtigerweise – muss:
- bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften innerhalb eines Zeitraumes von bis zu 10 Jahre, weil der Schadensersatzanspruch gegen den Vorstand nach 5 Jahren und der sich daran anschließende Schadensersatzanspruch gegen den Aufsichtsrat nach weiteren 5 Jahren verjährt.
- bei börsennotierten Aktiengesellschaften innerhalb eines Zeitraumes von bis zu 20 Jahre, weil der Schadensersatzanspruch gegen den Vorstand nach 10 Jahren und der sich daran anschließende Schadensersatzanspruch gegen den Aufsichtsrat nach weiteren 10 Jahren verjährt.
c. Keine Selbstbelastungsfreiheit des Aufsichtsrats
Im vorliegenden Fall bestand weiter die Besonderheit, dass der beklagte Aufsichtsratsvorsitzende im Fall der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen den früheren Vorstand sich selbst hätte belasten müssen, weil der Aufsichtsratsvorsitzende ja die aktienrechtlich unzulässigen Zahlungen empfangen hatte. Das Recht aber, sich nicht selbst zu beschuldigen und aktiv an der eigenen Strafverfolgung mitwirken zu müssen („Nemo-tenetur-Grundsatz“), stellt ein wesentliches Verfassungsprinzip in unserer Rechtsordnung dar.
Der BGH hebt in der Easy-Software-Entscheidung in diesem Zusammenhang hervor, dass die Frage, ob die Selbstbelastungsfreiheit der Annahme einer gesellschaftsrechtlichen Auskunfts- oder Handlungspflicht entgegensteht, eine Frage des Einzelfalls sei. Letztlich kommt der BGH nach einer ausführlichen Abwägung zu dem Ergebnis, dass das persönliche Interesse des beklagten Aufsichtsratsvorsitzenden, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, hinter seiner Pflicht zurückzustehen habe, als Aufsichtsrat im Interesse der Gesellschaft Ansprüche gegen den Vorstand geltend zu machen. Insoweit stellt der BGH maßgeblich auf die besondere Überwachungs- und Schutzfunktion des Aufsichtsrats ab. Die Frage, ob die Frage im Fall eines strafbaren Verhaltens des Aufsichtsrats ebenso zu beurteilen wäre, lässt der BGH dabei ausdrücklich offen.
(Stand: 02. November 2019, Bild vom Justizpalast in München von Franz Dürschmied auf Pixabay)
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